Von wegen Fachidioten!

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Ich hatte gestern meinen alljährlichen Dolmetscheinsatz bei einem Kunden, der Feuerlöscher herstellt und diese seit 2005 einem jährlichen Qualitätsaudit durch einen deutschen Kontrolleur unterzieht. Bei dessen zweitägigem Kontrollbesuch in Spanien werden die Unterlagen überprüft, die ich mündlich übersetze, und die Verfahren und Arbeitsschritte im Werk selbst durchgegangen und kontrolliert, wobei ich als Dolmetscher zwischen spanischem Qualitätstechniker und spanischen Arbeitern, dem französischem Werksleiter (mit Deutsch- und Spanischkenntnissen) und dem deutschen Qualitätsauditor vermittle. Schon bei meinem ersten Einsatz vor sieben Jahren musste ich erfahren, wie wichtig es ist a) zu wissen, wie man „Drehmomentschlüssel“ auf Spanisch sagt, b) gleichzeitig essen und dolmetschen zu können, c) mich nicht dazu herausfordern zu lassen, meine Trinkfestigkeit unter Beweis zu stellen, und c) über Gott und die Welt Bescheid zu wissen.

Da ich auch beim Mittag- und Abendessen dolmetschen muss, sind gerade die letzten Punkte von Bedeutung: Der Werksleiter zwingt mich quasi wie ein besorgter Vater dazu, mich nicht nur aufs Dolmetschen zu konzentrieren, sondern auch alle Speisen und Getränke zu kosten, sodass ich mit kleinen Happen und Schlücken vortäuschen muss, die gleichen Portionen zu essen und literweise Bier und Wein zu trinken, und dennoch meine Arbeit mit nicht allzu vollem Magen und klarem Kopf erledige. Schließlich werde ich dafür bezahlt, die behandelten Informationen wie ein Schwamm aufzusaugen, nicht die servierten Spirituosen …

Mit steigendem Alkoholpegel der Gesprächspartner nehmen auch die Gesprächsthemen eine besorgniserregende Bandbreite an, die es für den Dolmetscher in beiden Sprachen zu bewältigen gilt. So sorgten beispielsweise bei meinem gestrigen Einsatz Cuba Libre, Bier, Sangría, Wein und Cognac unter anderem für folgende interessante Themen:

  • Hundeschlittenfahrten in Lappland
  • Atommüllendlagerung in Deutschland
  • Strahlenverseuchte Gebiete in Sibirien
  • Französische Spezialitäten: Schnecken und Froschschenkel
  • Zutaten der echten valencianischen Paella
  • Weltweite Feuerlöscher-Industrie
  • Fusionen von Automobilherstellern in Deutschland
  • Gegenwart und Zukunft der Solar- und Windenergie
  • Vergleich der spanische, französischen und deutschen Arbeitsmoral
  • Kurdenmafia in Deutschland
  • Der Einfluss polnische Katholiken auf den Mauerfall
  • Trinkverhältnisse im Spanien des ausgehenden 20. Jahrhunderts
  • Chinas Übernahme der Weltindustrie
  • Kindererziehung
  • Nicht zu vergessen natürlich die absoluten Spitzenreiter: das Wetter in Spanien und die Wirtschaftskrise

Unglaublich aber wahr: Dies alles und mehr wurde tatsächlich in einem dreistündigen Mittagessen abgehandelt. Damit werden gleich zwei Thesen widerlegt: 1. Männer reden eben nicht immer nur über das Eine. 2. Übersetzer und Dolmetscher können es sich nicht erlauben, als Fachidioten aufzutreten. In der Tat gilt die Wissbegierde als eine wichtige Grundvoraussetzung für uns Sprach- und Kulturmittler, denn es gibt praktisch nichts, das nicht irgendwann einmal übersetzt oder gedolmetscht werden müsste. Also heißt es für uns stets Augen und Ohren offen halten, um zu Hansdampfen in allen Gassen zu werden und zumindest Smalltalks zu allen möglichen und unmöglichen Themen führen und dolmetschen zu können.

20 KOMMENTARE

  1. Klasse! Und wieder ein Beweis dafür, warum ich nicht dolmetsche. Die Kombination von Trinkfestigkeit und Sprachfertigkeit rangiert bei einen Vorzügen recht weit unten.

    Warum aber um Himmelswillen über Hundeschlittenfahrten in Lappland gesprochen werden muss, entzieht sich meiner Vorstellungskraft.

    Carreras de trineos de perros en Trapolandia? 😉

    • Hallo, Francisco,

      ja, so geht es mir auch: Trinkfestigkeit und Sprachfertigkeit sind für mich inkompatibel, und ich bevorzuge logischerweise Letzteres.
      Zur Hundeschlittenfahrt: Der Qualitätsauditor hatte seinen Osterurlaub in Lappland gebracht und zufällig Bilder und Videos im Laptop dabei, die er uns natürlich nicht vorenthalten konnte … 😉

      Gruss aus der Heimat!
      André

  2. Es totalmente verídico… : ) Son esos días en que se trabaja de verdad, se da todo, como un deportista, y se está todo el rato ‘delante de la cámara’… y acabas rendido.

  3. Hola André:
    Estupenda entrada, André, un placer leerte, como siempre. Otro punto a favor del traductor: no tener lagunas en estas ocasiones, para compartirlo todo con tus colegas de profesión.
    Un saludo!!!

  4. Hola André,

    si tradujeras entre un holandés/noruego/finlandés… y un alemán seguramente podrías permitirte el lujo de ser un Fachidiot. Es poco probable que se desviaran del asunto. Conclusión: la traducción simultánea español-alemán debe ser más cara. Plus de imprevisibilidad generalista. 😉

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